Wenn ich zurückdenke, wie damals in der Schweiz ein derber Wahlplakatspruch der Partei mit dem Sünneli für Aufruhr sorgte, dann merke ich wieder, wie gesittet und geradezu gemütlich in der Schweiz um politische Macht gekämpft wird. In Argentinien werden hingegen sämtliche Register gezogen.
Die politische Situation ist angespannt
Javier Milei, der als extremer Rechtspolitiker betitelte Präsidentschaftskandidat, ist häufig mit der Motorsäge an Veranstaltungen unterwegs, um lautstark zu verkünden, dass er all die Diebe und Nichtsnutze der peronistischen Linksregierung wie einen faulen Ast abschneiden werde. Auch sonst ist man nicht gerade zimperlich und zielt jeweils gegenseitig auf alle Schwachstellen, auch die unter der Gürtellinie.
Während der letzten Tage vor der Wahl fiel der Peso bis zu 10% an einem Tag.
Die Währung Argentiniens scheint auf einer ungebremsten Talfahrt.
Da trifft es den amtierenden Finanzminister der Linksregierung, Sergio Massa, der im ersten Wahldurchgang an der Spitze lag, hart. Denn die Inflation steigt und steigt immer schneller, immer höher, auf aktuell etwa 140 Prozent pro Jahr.
Die Inflation steigt ungebremst
Seit meinem Bericht über die Inflation in Argentinien vor einem halben Jahr hat sich der Peso gegenüber dem Dollar halbiert. Während der letzten Tage vor der Wahl fiel der Peso bis zu 10 % an einem Tag. Ich bin erstaunt darüber, wie relativ gelassen die Fussball-Weltmeister diese Niederlage hinnehmen. Einige versuchen, all ihr Erspartes auf dem Dollar-Graumarkt zu wechseln, und nicht wenige heben sogar ihre Dollar von ihren Bankkonten ab, um nicht wieder Opfer einer Enteignung zu werden, wie es sie auch schon gab.
Die Situation erfordert starke Nerven
Für die Landwirte ist die Situation äusserst unangenehm, denn die Erntesaison steht vor der Tür und man weiss nicht, welche Auswirkungen ein Präsidentenwechsel mit sich bringen wird. Ein Höchstmass an Flexibilität und Nervenstärke ist erforderlich, umso mehr, weil es seit Monaten nicht mehr richtig geregnet hat.
Nicht wenige heben ihre Dollar ab, um nicht wieder Opfer einer Enteignung zu werden.
Die Bevölkerung Argentiniens hat schon so manches Ungemach hinnehmen müssen.
Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem Klimatologen aufgrund des El-Niño-Phänomens starke Niederschläge prognostizierten und deshalb die Landwirte zusätzliche Flächen einsäten und Weideland in Ackerland umwandelten. Seit ich den Dinkel Anfang Juni gesät habe, hat es gerade einmal 30 mm geregnet, und der Leindotter, den ich im Juli gesät habe, hat bisher erst 8 mm gesehen.
Argentinier sind sich die Talfahrt gewöhnt
Dazu kommt, dass sich die Weltmarktpreise für Agrar-Rohstoffe wie Weizen, Mais und Soja auf tiefen Niveaus befinden. Produzieren unter Extrembedingungen auf allen Ebenen. Extremer kann es eigentlich gar nicht werden, oder doch? Offenbar ist die seit ca. 70 Jahren anhaltende wirtschaftliche Talfahrt in den Köpfen der Argentinier eingebrannt. Wenn ich aufmunternd sage, dass es ja nicht schlimmer werden könne, dann kommt immer dieselbe Antwort: «Doch, schlimmer geht immer.» Der Galgenhumor ist inzwischen Teil der argentinischen Kultur.
Wie fallen die Würfel am Ende?
Dabei gehört Argentinien zu den rohstoffreichen Ländern dieser Welt. Neben den aktuell gefragten Rohstoffen wie Lithium, das für die Batterien von Elektroautos benötigt wird, ist Erdgas in Hülle und Fülle vorhanden, natürlich auch sehr viele Agrar-Rohstoffe und Rindfleisch, Obst und Wein.
Zudem ist das Lohnniveau inzwischen auf einen der tiefsten Plätze weltweit gefallen, ebenso die Immobilienpreise. Langfristig könnte das für Argentinien den Umschwung mit sich bringen, doch kurzfristig herrscht, politisch bedingt, das Chaos. Seit Tagen bekommt man landesweit kein Benzin mehr an den Tankstellen. Zum Glück haben wir einen Pick-up, der mit Diesel fährt. Grund sind Preisdeckelungen der peronistischen Regierung, was dazu führt, dass die Ölkonzerne nichts mehr liefern.
Wie würde man als Schweizer in Argentinien wählen?
Egon Tschol stellt sich eine Frage, die wohl viele Auslandsschweizer umtreibt.
Man darf gespannt sein, denn in zwei Tagen werden nach der Stichwahl zwischen Milei und Massa die Würfel gefallen sein. Entweder entscheiden sich die Argentinier für die Beibehaltung der bisherigen Malaise – in dieser Welt haben sie gelernt, sich zurechtzufinden – oder sie entscheiden sich für die Unsicherheit durch grosse Veränderungen, was Chancen und Risiken gleichermassen bedeutet. Wie würde man wohl als Schweizer in Argentinien wählen?
Zur Person
Mit 40 Jahren wechselte Egon Tschol von seinem Beruf als Finanzanalyst in die Landwirtschaft und übernahm 2009 einen Betrieb von elf Hektaren im schaffhausischen Klettgau. Er stellte auf Demeter und Mischfruchtanbau um. Mit Ehefrau Bea und den zwei Töchtern Fiona und Zoé sowie sechs Pferden wanderte er 2020 nach Argentinien aus, um die erlernte regenerative Landwirtschaft auf einer 15-mal grösseren Fläche uneingeschränkt anzuwenden.[IMG 2]