Eines muss gesagt werden über den Winter im Norden Albertas: Er lehrt einen, die wärmeren Jahreszeiten zu schätzen! Es gibt keinen Vergleich für die Euphorie, die man spürt an diesen ersten wärmeren Tagen, nach Monaten mit Minustemperaturen.

Schon bald ist es geschafft

Die Kältestarre schmilzt einem aus den Knochen wie der Schnee in der Sonne. Und wenn nach Wochen von Weiss in Weiss endlich etwas braunes Gras hervorguckt, will man überschwängliche Freudensprünge machen wie die jungen Kälber im Feld.

Natürlich sind die ersten Anzeichen des Frühlings jeweils nur eine Neckerei der Natur und der Winter kommt immer noch einmal mit einer Wucht zurück. Aber die Tage sind doch schon lang und die Sonne, die nun nicht mehr nur flach am Horizont hervorschaut und schnell wieder verschwindet, sondern schon viel höher steht, bringt spürbar mehr Wärme mit sich. Man weiss, dass es nur das letzte Aufbäumen des sterben Winters ist. So übt man sich in Geduld, im Wissen, dass man es fast schon geschafft hat.

Das Abkalben verläuft in Etappen

48 der Rinder, die Lowes neu zukauften, waren früher geführt und fingen schon Anfang März an zu kalben. Die Temperaturen fielen zum Teil noch bis minus 22 Grad Celsius und so musste Markus auch nachts raus und schauen, ob es neue Kälber gab. Die Rinder waren über Nacht in einem kleineren Gehege beim Stall eingesperrt, sodass es einfacher war, zu checken und einzugreifen, falls ein Rind Hilfe brauchte. Oder wenn ein frisches Kalb, das noch nicht trocken war, über Nacht im Stroh abtrocknen und aufwärmen musste. Tagsüber waren die Rinder auf der Weide, wo sie mit Heu und Hafer-Silage gefüttert wurden.

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Wir hatten einige Kälber mit hohem Geburtsgewicht, zudem waren einige Rinder eher auf der kleineren Seite. Das schwerste Kalb wog circa 48 kg. So mussten Markus und Tom mehrere Kälber ziehen und leider sogar eine Kuh schiessen, da weit und breit kein Tierarzt für einen Kaiserschnitt verfügbar war. Das Kalb starb auch, nur Minuten nachdem sie es aus der toten Kuh geschnitten hatten. Aber so ist das leider in der Landwirtschaft: Leben und Tod sind so nahe beieinander.

Wir hoffen, dass die grosse Gruppe, die Ende April zu kalben beginnt, eine bessere Erfolgsrate und leichtere Geburten haben wird. Wobei es auch in dieser Gruppe 55 Rinder hat und bei Erstkalbenden öfters geholfen werden muss. Immerhin wird es dann nicht mehr so kalt und die frischen Kälber können auch nachts draussen bleiben.

Hier heisst es: «Go big or go home»

Diese englische Redewendung, die sich in etwa mit «Mach es gross oder geh nach Hause» übersetzten lässt, ist in der Landwirtschaft zum Standard-Prinzip geworden. Wer es nicht schafft, gross zu werden, geht leider unter. Bei den exorbitanten Preisen für alles – von Equipment, über Saatgut bis hin zum Land – können kleine bis mittelgrosse Betriebe kaum mehr mithalten.

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Lowes haben es sich darum in den Kopf gesetzt, immer grösser zu werden. Bereits haben sie mehr Land gekauft und nun sind wir schon bei rund 2750 Hektaren hier oben. Im Winter, wenn der Boden gefroren ist, wird jeweils gerodet. Und wenn es taut und trocken genug ist, wird gemulcht. In ein bis zwei Jahren hoffen Lowes, auch hier oben Getreide etc. für den Weltmarkt anzubauen, nicht nur Hafer und Gerste, um die Kühe zu füttern.

Landwirtschaftliche Industrie auf Abwegen

Wenn schlussendlich die genetisch modifizierten Feldfrüchte und Glyphosat im grossen Stil ihren Weg auf die Nord-Farm finden, ist es dann vielleicht Zeit für uns, weiterzuziehen. Aber bis das frisch gerodete Land bereit ist für genveränderten Raps und dergleichen, geht es noch eine Weile. Wobei die landwirtschaftliche Industrie in Nordamerika bereits hart daran arbeitet, auch Weizen, Gerste etc. genetisch zu modifizieren. Die Landwirtschaft ist kaputt und leider besteht kein Interesse daran, sie zu flicken, weil die, welche die Gesetze beeinflussen, dieselben sind, die vom kaputten System profitieren.

Lobbyismus ist im Endeffekt nur legale Bestechung. Und solange die Regierung kaufbar ist, wird sich auch in der Gesetzgebung für landwirtschaftliche Aspekte nichts ändern. Und die Natur und der Konsument werden von Jahr zu Jahr kränker.

[IMG 4]Zur Person: Alexandra Ruckstuhl und ihr Mann Markus sind 2015 zum zweiten Mal aus der Schweiz nach Kanada ausgewandert. Das erste Mal kehrte die Familie zur Behandlung einer lebensbedrohenden Krankheit ihrer ersten Tochter Josephine in die Schweiz zurück, die zum Glück erfolgreich verlief. Nach der Geburt der zweiten Tochter Elena ist Familie Ruckstuhl in ihre Wahlheimat zurückge­kehrt. 2019 ist Sohn Quinn auf die Welt ge­kommen. Seit 2022 wohnen sie in der Nähe des Weilers Sunset House, wo Markus Ruck­stuhl auf einer grossen Farm angestellt ist.